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Rund um das Messer

Ein zentrales Element des Pekiti Tirsia Systems ist das Training mit und gegen Messer. Ein sinnvolles Messertraining, wie es in unserem Kali System praktiziert wird, entwickelt und verknüpft alle für geschickte Kämpfer essentiellen Eigenschaften: körperliche Fitness, Entscheidungskraft, Entschlossenheit, Mut, Selbstvertrauen, die Einsicht für die Notwendigkeit und die Aufrechterhaltung von "Situational Awareness", sowie strategisch-taktisches Handeln.

Nicht nur im Pekiti Tirsia, auch in einigen anderen philippinischen Kampfkünsten und auch in anderen Kulturen wurde die Bedeutung des Messers erkannt. Zum Beispiel war für Col. Rex Applegate die Klinge der 'Confidence-Builder' schlechthin. Er riet OSS Agenten immer ein Messer (oder einen unverfänglichen Gegenstand, der wie ein Messer eingesetzt werden kann) bei sich zu führen.

Das Training mit dem Messer ist im Pekiti Tirsia ein wichtiges Element: Wäre es überhaupt möglich, das Pekiti Tirsia sinnvoll auf eine einzelne Waffenkategorie zu reduzieren, dann müsste diese das Messer sein. Messertraining allein ist aber nicht komplett, für sinnvolles Training bedarf es mehr...

 

Sinnvolles Training mit Waffen, die im Training spezifische Schwerpunkte setzen

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Das Leistungsvermögen von Kämpfern wird durch verschiedene Eigenschaften bestimmt, die gezielt trainiert werden können. Ebenso wie gut ausgebildete Fitness-Trainer schnell die körperlichen Stärken und Schwächen eines Sportlers finden, und dann spezifische Übungen an entsprechenden Geräten anordnen, so erkennen erfahrene Kampfkunstlehrer

schnell, welche spezifischen Defizite und Stärken eine Person hat, und welche Übungsmethoden in diesem Fall die besten Ergebnisse bringen.

Für die flexible Gestaltung eines optimierten Trainings werden die vielfältigen Körper-übungen im Trainingssystem der Pekiti Tirsia Europe bereits im Basistraining durch eine umfangreiche Sammlung an spezifischen Übungsgeräten ergänzt:

 

Die Fünf Waffenkategorien des Kali Basistraining.

  1. Einzelwaffe: Stöcke und Schwerter verschiedener Länge und Gewicht. Typisch für das Basistraining ist der armlange "Kali-Stock" als Schlagwaffe (Impact-Weapon) oder das gleichlange philippinische Kurzschwert (Edged Weapon, Talibong, Ginunting). Auch der Speer (Malayu Sibat) ist typischer Teil dieser Kategorie.

  2. Symmetrische Doppelwaffen: Doppelstock, Doppelklinge

  3. Lang– und Kurzwaffe: Schwert und Messer (Espada y Daga), Stock und Messer

  4. Körperwaffen: Hände, Unterarme, Ellbogen, Schultern, Knie, Schienbeine, Füße,... (siehe auch unseren Artikel: Offene Hände des Pekiti Tirsia)

  5. Messer

Kali verwendet Stöcke, Schwerter und Messer unterschiedlicher Länge, Gewicht und Form, so dass die Trainierenden ein intuitives Verständnis für verschiedene Waffen- und Bewegungsformen entwickeln. Diese Vielfalt gilt auch für die Kleidung. Enge Kleidung oder schwere Schuhe zum Beispiel können die dynamische Ausführung von Tritten deutlich verändern.

 

Rund ums Messer

Das Messer ist im Pekiti Tirsia wegen seiner speziellen Bedeutung als Extrakategorie aufgeführt. Als Doppelmesser oder als Einzelmesser (oder nach unserem Verständnis: Messer und Hand, denn die freie Hand bleibt nicht ungenutzt, sondern unterstützt das Messer bei jeder Aktion) verbindet es die Charakteristika der anderen vier genannten Kategorien.


Tatsächlich ist es so, dass die anderen vier Kategorien jeweils einen wichtigen Aspekt des

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Kampfes mit bzw. gegen Messer betonen und verdeutlichen; genau deswegen wurden diese fünf Waffenkategorien für den funktionalen Kern unseres Basissystems gewählt:

Quasi als erweiternder Rahmen um den Messerkampf herum ergänzen die Kategorien 1) bis 4) das Messertraining optimal.

Werden die Fünf Waffenkategorien wie in unserem Basistraining als komplettes System gebraucht, dann erlauben sie nicht nur, sondern sie garantieren geradezu, dass die Methoden und Strategien der Selbstverteidiung und des Nahkampfes gezielt und unter Setzung sinnvoller Schwerpunkte trainiert und verstanden werden.

 

"SPEAR and STPAP"
oder: Was muss trainiert werden?

Der Pekiti Tirsia Stilbewahrer Grand Tuhon Leo T. Gaje fasst die wesentlichen fünf körperlichen Qualitäten von Kämpfern unter dem Kürzel "STPAP" zusammen: Speed (Tempo), Timing (zeitliche Abstimmung), Power (Energiefreisetzung), Accuracy (Angemessenheit, Balance) und Precision (Präzision).


Diese und andere körperlichen Eigenschaften

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basieren auf den geistigen Eigenschaften Spirit & Heart: Entscheidungs­kraft, Entschlossenheit, Mut, Einfühlungs­vermögen, Konsequenz und Selbst­vertrauen. In einer realen Situation, sei es eine körperliche Auseinander­setzung oder eine Extrem­situation anderer Art, sind es diese geistigen Eigenschaften, welche maßgeblich bestimmen, inwieweit vorhandene körperliche Fähigkeiten in der konkreten Situation tatsächlich ungehindert und wirkungsvoll zum Einsatz kommen. In ihrer Gesamtheit sind Spirit und Heart quasi das tragende Fundament für die konkrete Realisierung der körperlichen Fähigkeiten einer Person.

"The SPEAR, composed from SPirit+hEARt, transforms to STPAP" bedeutet übersetzt: „Der Speer (SPEAR), zusammengesetzt aus Geist (SPirit) und Herz (hEARt), transformiert nach STPAP”. Dies ist eine wichtige Erkenntnis aus den zeitlosen Erfahrungen vieler Generationen von Trainern. Entsprechend ist Kali ein Trainingssystem, das ganzheitlich auf den Menschen wirkt, und Trainierenden hilft, die gewünschten körperlichen Fertigkeiten harmonisch und gestützt durch eine in Spirit und Heart gereifte Persönlichkeit zu entwickeln.

Vollständig & Beschleunigt, denn »gut« ist nicht gut genug!

Ein vollständiges Trainingssystem entwickelt die Trainierenden in allen maßgeblichen Eigenschaften. In den technischen Fertigkeiten und den körperlichen Attributen ebenso wie in den Eigenschaften von Herz und Geist.

 

Messerorientiertes Training beschleunigt diesen Prozess: Im Hinblick auf die besondere Dynamik, Gefährlichkeit und Brutalität eines Messerkampfes, wird deutlich, dass bei einem Messerkampf alle wesentlichen Qualitäten der Kämpfer in einer Schärfe gefordert werden, wie sie anderswo kaum gekannt wird. In der Konfrontation mit einem Messer ist »gut« nicht gut genug; entsprechend werden in einem ernstzunehmendem Messersystem bereits im Vorfeld alle für einen erfolgreichen Kämpfer benötiften Eigenschaften so intensiv und schnell wie irgend möglich entwickelt. Dies ist der eigentliche Grund (wichtiger noch als Tradition oder kulturelle Gründe) warum das Messertraining in unserem Kali System eine solch zentrale Position einnimmt: Messertraining ist der ideale Lernbeschleuniger.

Gut ausgebildete Kali Trainer wissen nicht nur um die Vorteile des Messertrainings. Ihnen ist auch bewußt, dass reines Messertraining Gefahren für die Entwicklung der Kämpfer bergen kann. So findet sich bei den "Technikern" (hier im Gegensatz zu "Praktikern") unter den Messerkämpfern häufig ein blindes Vertrauen auf die Schärfe der Klinge. Nicht zuletzt durch effekthascherische Lehrvideos hat sich in der FMA– und Messerkampfszene in den letzten Jahren der Glaube an den 'One-Cut Kill' – oft propagiert mit der Verheißung des 'Instant-Shock' – breit gemacht. Ein gefährlicher Irrglaube, der in der Tat mehr noch als der aus verschiedenen Budo-Sportarten bekannte Glaube an den sicheren 'One Punch Kill' ein tödlicher Irrtum sein kann.

Hier liegt ein entscheidender Unterschied zwischen einem "Showman" (ein "technisch beeindruckender Messerkünstler") und einem wirklich hocheffektiven Messerkämpfern: Letztere sind Praktiker, die ein Messer ohne es hochzustilisieren wie ein Werkzeug benutzt, um erfolgreich zu sein und zu überleben. Sie wissen um den Unterschied zwischen töten und stoppen sowie zwischen verletzen und überleben. Ein trainierter Kämpfer mit Weisheit, Herz und Verstand – im Kali reden wir von einem "Krieger".

 

Knife Culture – Erfahrung und Tradition

Weil unser Kali System in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart ständig in realen Nahkampfsituationen getestet und überprüft wurde und wird (siehe zum Beispiel unseren Artikel "Pekiti Tirsia und das Militär") ist die Gefahr, die aus dem 'One-Cut Kill'–Denken entsteht, bekannt. Eine der wichtigsten Lektionen, die ein Anfänger lernt, ist den Unterschied zwischen verletzen, töten, stoppen und überleben zu kenn und dies auch wirklich zu verstehen. Sie erleben dabei die lebensbejahende Knife-Culture der alten Filipinos, die im krassen Gegensatz steht zu dem lebensvernichtenden Fast-Food Messertraining, das heutzutage im Kontext vom sportlichen Sparring und Wettkampf häufig propagiert wird. Ein "sportlicher", reglementierter Duellkampf bis zum ersten Blut ist in jeder Hinsicht etwas ganz anderes als eine Ernstsituaton auf Gedeih oder Verderb.

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Beim Vermitteln und Erleben der Knife-Culture gilt wie immer, wenn es um Praxis geht: Erfahrung schlägt Wissen.

 

Soll die Balance der Knife-Culture erfahren werden, muss sie erlebt werden und im praktischen Training verankert sein.

 

Ist das Training jedoch nur einseitig, kann das Wissen um die Balance nur erlerntes Wissen und keine Erfahrung sein.

Wie Grand Tuhon zu sagen pflegt: "First you know, then you understand." Die Übenden müssen Erfahrung sammeln und buchstäblich begreifen, bevor sie wirklich verstehen können. Von erfahrenen Pekiti Tirsia Trainern wird deswegen die Balance zur Schärfe des Messers durch das Training der Schlagwaffen (Impact-Weapons: Stock und Körperwaffen) hergestellt.

Nur durch die richtige Kombination der

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Übungsmethoden kann die Balance des Ergebnisses sichergestellt werden. Oder wie Grandtuhon zu sagen pflegt: Das Geheimnis liegt nicht in der Technik, sondern darin, wie diese dem Schüler vermittelt wird. ("The secret is not the technique, but how the technique is given to the student.")

Spezifische Wirkungen von Waffentraining: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

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So wie das Training mit Stock und Körperwaffen das Messertraining wie in den vorigen Abschnitten beschrieben sinnvoll ergänzen, so bilden alle Waffenkategorien unseres Kali Trainings ein verflochtenes System, das sich gegenseitig ergänzt, und, das in seiner wechselwirkenden Gesamtheit mehr ist als die einfache Summe seiner Teile.

Dabei ist für die Wirkung des Synergieeffektes entscheidend, dass die Waffenkategorien nicht als eine willkürliche Mischung und Ansammlung von Techniken trainiert werden, sondern auf eine Weise, bei der Bewegungsmuster, Krafterzeugungsmechanismen und Handlungsprinzipien mehrfach, idealerweise sogar in allen Bereichen deckungsgleich oder ähnlich wiederverwendet werden.

Diese Mehrfachverwendung ist nicht nur praktisch für das Training, sie ist auch wichtig für die

Handhabung realer Situationen. Denn tatsächlich sind die Übergänge zwischen Impact (Stock) und Klinge (Messer) fließend. So kann ein Stock scharfkantig sein (Vierkantholz, Flat-Stick) und ein Messer kann unter Verzicht der Schneidwirkung als stumpfe Waffe (geschlossener Folder) eingesetzt werden. Beim Gebrauch des Teleskopstockes z.B. verändert sich die Länge der Waffe unter Umständen während des Kampfes. Wenn das Training einen Kämpfer in die Lage versetzen soll, mit der Vielfalt der möglichen Situationen verantwortlich und erfolgreich umzugehen, dann muss das Training ihn auch darauf vorbereiten.

Hier ein Überblick über die Waffenkategorien des Kernsystems und welche Qualitäten sie primär erzeugen können:

  • Einzelstock / Einzelwaffe: Fokus, Energieerzeugung, Distanzkontrolle, Timing.

  • Symmetrische Doppelwaffen: Symmetrie, Anpassungsfähigkeit und Spontaneität, Mut, Koordination und Präzision.

  • Lang– und Kurzwaffe (Espada y Daga): Secondary Awareness (Mehrschichtige Aufmerksamkeit), Überbrückung und Verbindung von Distanzen, Vorbereitung.

  • Messer: Survivor-Denken, Explosivität, PFPS, taktisches Positionieren im Nahbereich, Aufmerksamkeit, Respekt.

  • Körperwaffen: Selbstvertrauen, Unabhängigkeit.

Diese fünf Waffenkategorien bilden ein kompaktes und zugleich umfassendes Übungssystem, das ganzheitlich in dem zuvor beschriebenen Sinne ist. Dabei sind die Methoden speziell so gewählt, dass die Mehrfachverwendung und Übertragung der Konzepte, Krafterzeugungs- und Bewegungsmuster mühelos möglich ist. Eine Trainingsmethode und Waffenkategorie unterstützt und verbessert die andere. Sie wirken als System harmonisch im Einklang.

Über diesen Kern des Systems hinaus gibt es weitere Waffenkategorien, die in gekapselten Modulen zur Verfügung stehen und als solche eigenständig oder als Ergänzung zum Kernsystem unterrichtet werden können. Diese Module bieten zum Beispiel die Möglichkeit zur Spezialisierung auf verschiedene Arten von Schwertern, Kurzstock, Langstock (Sibat), Teleskopstock, Schild, flexible Waffen und moderne Waffen wie beispielsweise Handschellen, Sprühwaffen, Pistolen, Gewehre, (Klapp-)Spaten, Elektroschocker oder praktische Kombinationen aus Lang- und Kurzwaffen, wie z.Bsp. Licht und Messer, Pfefferspray und Schlagstock, Handschelle und Teleskopstock,...

Die Klasse dieses Kernsystems zeigt sich darin, dass eine Person, die ausreichend Erfahrungen in diesem System gesammelt hat, in kürzester Zeit in der Lage ist, ihre Erfahrungen zu adaptieren und mit jeder Art von den oben genannten Waffen wirkungsvoll umzugehen.

Doch die eigentliche Bedeutung des Kernsystems zeigt sich, wenn immer wieder beobachtet werden kann wie Menschen, die nach dieser Methode trainieren, sich wandeln und im Verlauf des Trainingsprozesses nicht nur die körperlichen Fähigkeiten zum Selbstschutz, sondern auch eine positive Lebenseinstellung und in der Konsequenz, Zuversicht, Entschlusskraft und Selbstvertrauen entwickeln.

Schlußwort

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Eine Verteidigungskunst muss auf die Vielfalt der wahrscheinlichen Bedrohungen vorbereiten. Eine Lebenskunst soll die Qualitäten fördern, die für Erfolg und Gesundheit im Leben hilfreich sind. Unser Kali ist beides. Verteidigungskunst und Lebenskunst. Risikobewusstsein, Selbstvertrauen, Zuversicht und Vorsicht müssen in der Balance gehalten werden. Dies ist die Aufgabe des verantwortungsbewußtenKali Trainers. Sein wichtigstes Werkzeug sind die Fünf Waffenkategorien unserer Kampfkunst.

Author: Uli Weidle
Manila, 31 July 2004 

 

Veröffentlichung und Copyright

Der obige Artikel wurde das erste Mal im Juli 2004 auf der Web-Seite der Pekiti Tirsia Europe (www.pekiti-tirsia.net) veröffentlicht. Das Urheberrecht und Copyright © 2004 liegt beim Autor Uli Weidle. 

Zitate und Verlinkungen zu diesem Artikel sind für nicht-kommerzielle Zwecke gestattet, wenn ein Link zur Web-Seite www.armadong.com beigefügt wird. 

Der Autor kann per Email erreicht werden: uli@armadong.com

 

Nachdem die Pekiti Tirsia Europe Domain www.pekiti-tirsia.de nicht mehr erreichbar war, wurde der Artikel im Oktober 2019 auf www.armadong.com wieder veröffentlicht.

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